Das Buch könnte mit seinem Erscheinungsdatum passender nicht sein, kämpft Deutschland doch aktuell, ausgelöst durch das Covid-19-Virus, mit einer digitalen Schockwelle. Viele Arbeitsprozesse müssen nun abrupt technisiert werden: An den Hochschulen und Universitäten werden Methoden des E-Learnings erforderlich, zwangsverordnetes Home-Schooling und Home-Office benötigen eine schnelle digitale Adaption an gänzlich neue Arbeits- und Lebenswelten. Analog und Präsenz war gestern. Der digitale Dämmerschlaf ist endgültig vorbei.
Schon im Vorwort stellen die Autor*innen klar: Der Digitalisierungsprozess macht – auch ohne Corona-Pandemie – vor der Domäne des Coachings nicht Halt und birgt Chancen und Risiken zugleich. Zentral dabei seien vor allem zwei Fragen:
Was passiert mit dem Kernelement des Coachings, der Befähigung über den Dialog, im analogen 1:1-Gespräch mit den Klient*innen in einem geschützten Raum?
Und weiter: Welche hilfreichen digitalen Zusatzmöglichkeiten bieten sich für Coaches und wie lassen sich diese ‚gewinnbringend‘ in das klassische Coaching einbetten?
Das Buch wendet sich dabei an alle Akteur*innen auf dem Coachingmarkt, die ihr eigenes Wirken in Bezug auf technische Möglichkeiten und Notwendigkeiten überprüfen möchten, an Menschen also, deren Dienstleistung darin besteht, andere Menschen und Unternehmen in ihrem Entwicklungsprozess zu fördern und zu begleiten und dafür zeitgemäße Interaktionsmöglichkeiten bereitstellen möchten und müssen.
Angenehm leicht strukturiert und an den Coaching-Dreiklang angelehnt ist der in nur drei Hauptkapitel untergliederte Aufbau des Buches:
- Anerkennen, was ist
- Verstehen, was wirkt
- Tun, was hilft
Kapitel 1 beschäftigt sich mit dem Einzug der Digitalisierung in den Coachingprozess. Anerkennen, was ist – das ist die Akzeptanz der Tatsache, dass schon jetzt eine Verschiebung hin zum remote-Coaching stattfindet: Telefon-, Videokonferenzen, asynchrone Kommunikation via Mail, Kurznachricht, Chats, spezifische Tools und Programme erobern die Coachingszene und dürfen nicht ignoriert werden, möchte man sich weiterhin auf dem, wie die Autor*innen schonungslos analysieren, übersättigten Coachingmarkt behaupten. Insbesondere Webinare sowie auf den sozialen Plattformen bereitgestellte Coaching-Videos wirken als Teaser für potenzielle Kundschaft und finden somit einen zentralen Platz in der eigenen Vermarktung.
Das Autorenteam stellt hilfreiche Frageboxen zur Verfügung, die die eigene Coachingpraxis und möglicherweise künftige Positionierung im eigenen beruflichen Handlungsumfeld (GU oder KMU, Marketing oder Öffentlicher Dienst, …) reflektieren lassen. Die Erläuterungen zu den stattfindenden wirtschaftlichen Umwälzungen sind umsichtig, umfassend und überwiegend auch für jene Leser*innen verständlich, die sich noch wenig mit den Phänomenen „Industrie 4.0“ und „Arbeit 4.0“ auseinandergesetzt haben.
Kapitel 2 befasst sich intensiver mit der Aufforderung, die Wertschöpfungskette des eigenen ‚Coachingsbetriebs‘ zu reflektieren und nach Digitalisierungspotenzialen zu durchforsten, z.B. in den Bereichen Administration, Terminabstimmung, Nachhaltigkeit der Coachingdialoge oder auch Auswertung des Coachingsprozesses. Die Autor*innen sprechen sich hier für eine zumindest „minimalinvasive Produktänderung“ aus (in Form von bspw. digitalen Kalendern, Clouds, virtuellen Dialogräumen) aus und lassen dabei den zentralen Aspekt der Datensicherung nach DSGVO nicht aus. Zitat: „Coaches, die heute noch t-online-Mailadressen nutzen oder gar unentgeltliche Internetverbindungen zeigen nach außen, dass sie sich wenig Gedanken über die Sicherheit der zwischen ihnen und ihren Auftraggebern ausgetauschten Daten machen“. Auch die inhaltliche und technische Ausgestaltung der eigenen Coaching-Website muss überprüft und an heutige Standards angepasst werden (Bildsprache, Impressum, Seitenformat usw.), um “Old-School-Selbstmarketing” zu vermeiden.
Ebenso in diesem Kapitel stellen Wrede und Zimmermann Frageboxen zur Verfügung, um den Auswahl- und Entscheidungsprozess pro oder contra spezifischer digitaler Strategien beleuchten und erfolgreich durchführen zu können. Verschiedene Coaching-Fullservice-Plattformen werden vor- und einander gegenübergestellt, um der Leserschaft einen ersten Einblick in die digitalen Möglichkeiten in diesem Bereich zu gewähren – also auch seitens der Autor*innen ein Fullservice für die Leserschaft…
Kapitel 3: Unter dem Motto „Coaching 4.0 in Aktion“ sind die Impulse der beiden Autor*innen zusammengefasst, das eigene analoge Coaching ans Licht zu halten und auch in emotionaler Hinsicht zu überprüfen: Welche Aspekte des Coachings sehe ich bei der zunehmenden Digitalisierung gefährdet und wie kann ich die Befähigung zur Selbstermächtigung in einem remote-geführten Coachingdialog sicherstellen? Eigene Ängste, Hemmschwellen und Stolpersteine dürfen erneut anhand von Frageboxen reflektiert werden, um einen Aktionsplan für das eigene Coachinghandeln 4.0 zu entwerfen. Hierbei wird auch der Aspekt der künstlichen Intelligenz behandelt: automatisierte Prozesse, in denen der Mensch nicht mehr zwangsläufig auf einen anderen Menschen treffen muss wie der Chatbot, der im MIT-Programm ELIZA erfolgreich bei der Behandlung von PTSD-Patienten eingesetzt werden konnte. Ist digitales Coaching gar nicht so herz- und seelenlos, wie man vermuten könnte? Braucht es die persönliche Zuwendung und Aufmerksamkeit der Coaches wirklich (immer)?
5-Fragen-Interviews mit wichtigen Anbietern aus der Coachingszene sowie ein Glossar runden das letzte Kapitel und damit das Handbuch ab.
Fazit: Ich bin beeindruckt von der Fülle an ebenso systemischen wie systematischen Hintergrundinformationen, die zu der Thematik „Coaching und Digitalisierung“ zusammengetragen worden sind. Das Buch ist anspruchsvoll und damit nicht als Badewannen-Lektüre geeignet, sondern für Coaches, Trainer*innen, PsychotherapeutInnen etc. gedacht, die sich ernsthaft und motiviert mit der Zukunft des eigenen Berufsfeldes auseinandersetzen möchten. Das Autorenteam versteht es dabei hervorragend, wissenschaftlich fundiert das ambivalent besetzte Thema „digitalisierte Formen des Coachings“ zu beleuchten, ohne dabei weder praxisnahe noch ethische, gar philosophische Betrachtungen außen vorzulassen. Was darf bleiben, was muss gehen von dem zeit-raum-gebundenen 1:1-Coaching, das wir gestern noch kannten?
Wer als Trainer*in, Coach, Supervisor*in (…) seriös und zeitgemäß agieren, überhaupt auf dem Markt überleben will, kann mithilfe des Handbuchs mit dem Entstauben von analogen Sentimentalitäten, Ängsten und Umständlichkeiten im eigenen Berufsfeld beginnen.