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Irren ist menschlich – Klaus Dörner, Ursula Plog, Thomas Bock, Peter Brieger, Andreas Heinz & Frank Wendt (Hg.) 2019 – Psychiatrie-Verlag – Rezension

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Dr. Mucha Rezension von Klaus Dörner, Ursula Plog, Thomas Bock, Peter Brieger, Andreas Heinz & Frank Wendt (Hg.) 2019 Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Köln: Psychiatrie-Verlag. (989 Sei­ten. Preis 40 €.)

Mein Lieblingsbuch begleitet mich seit der 1984-er Erstauflage der völlig neubearbeiteten Ausgabe von 1978. Damals hatten Dörner und die leider viel zu früh 2002 gestorbene Ursula Plog „nur“ 603 Seiten veröffentlicht, der Verlag residierte noch in Rehburg-Loccum. Jetzt liegt die 25. Jubiläumsausgabe in wieder überarbeiteter Fassung und noch umfangreicher auf dem Gabentisch. Es gibt neue Abschnitte zu Borderline (innerhalb des Kapitels 9, S. 477-484) und Autismus (innerhalb des Kapitels 2, S. 122ff: „Unbekannte Landschaft in fremder Welt“, und innerhalb des Kapitels 3, S. 162ff). Einige Kapitel sind als Einzelbände erhältlich. Davon rate ich ab, weil man sich ja auch nicht nur die Lippen der Mona Lisa an die Wand hängt. Das Kapitel 15 (S. 715-750) „Recht und Gerechtigkeit“ gibt es zusätzlich als Download-Material.

Dieses Werk zu rezensieren kommt mir vor wie das Besteigen des Mount Everest, wobei ich bisher nur den Brocken (höchster Berg Norddeutschlands) erwandert habe. Wenn man bisher in klassischen Bahnen ausgebildet wurde, gedacht oder gearbeitet hat, dann verändert „Irren ist menschlich“ Qualifikation und Arbeit grundlegend, vergleichbar mit einem/einer kleinkariert-kapitalistisch denkenden Betriebswirt*in bei Lesen/Verstehen von Karl Marx.

Von Beginn an bezog dieses sozialpsychiatrische Standardlehrbuch klar Position für gemeindenahe Psychiatrie und hat die Versorgung psychisch erkrankter Menschen mit verbessert. Die sechs Herausgebenden sind Fachleute, die Theorie und Praxis verkörpern und mit den weiteren 23 Autor*innen dieses Ausnahmelehrbuch vorlegen.

Nach den 19 Kapiteln folgen die Gesamtliteraturliste und das Stichwortregister. Zielgruppe sind Studierende/Lernende helfender Berufe, Berufstätige in diesem Praxisfeld und Psychiatrieerfahrene (Patient*innen, Angehörige, Nachbarn), womit auch der trialogische Ansatz verwirklicht wird, zu dem auch gemeinsame Sprache auf Augenhöhe (transparent, kontrollierbar) gehört. Der bewusst niedrig gehaltene Kaufpreis des wertvollen Buches sollte für alle Zielgruppen erschwinglich sein.

Im zehnseitigen Vorwort erzählt Dörner die Geschichte des Buches. Aus der 1968er Aufbruchstimmung entstand im Zuge der Psychiatriereform-Bewegung die Erstpublikation 1978. Die Fassung 1984 greift insbesondere bisher von der klassischen Wissenschaft Ausgegrenztes auf und bezieht es in die (ökologische) „Landschaft der Not“ mit ein. Nur so kann die Wirklichkeit vollständig wahr genommen werden. 1996 spiegelt sich „der Umsturz des klassischen hierarchisch-vertikalen Verhältnisses zwischen psychisch Kranken und Profis“ (S. 14) auch als Erfolg der Selbsthilfe-Bewegung in der Überarbeitung wieder. Psychiatriereform, Deinstitutionalisierung, Auseinandersetzung mit der Rolle der Psychiatrie im Faschismus, all das floss in die Umarbeitung ein. Insbesondere auch die „Grundbedürfnisse der chronisch Kranken nach Wohnen und Arbeiten in der Kommune“ (ebd.). Diese organisatorisch-strukturellen Erfolge konnten nicht ebenso auf der philosophischen Ebene der Grundhaltung „in den Köpfen“ erzielt werden, deshalb auch die erneute Überarbeitung 2002. Hier ging es um das Achten der Andersartigkeit des Anderen, um „unverfügbare Würde“ (S. 15). So wurde ein neues Kapitel über psychisch kranke Straftäter, den „Ausgegrenztesten“ (ebd.) aufgenommen (2019, Kapitel 11, S. 521-584). In der aktuellen 2019er Fassung wird die anthropologische Psychiatrie weiter entwickelt, die manche als Postpsychiatrie bezeichnen (S. 16) unter Bezugnahme z.B. des Hometreatments. Inklusion wird ebenso begrüßt („Auf dem Weg zur Inklusionspsychiatrie“, S. 18) wie es abgelehnt wird, Psychotherapie als Privilegierung relativ gesunder psychisch Kranker zu betreiben (S. 17). Entsprechend formuliert Dörner einen kategorischen Imperativ, mit vollem Einsatz „immer bei dem Bedürftigsten …, bei dem es sich >am wenigsten lohnt<“ zu beginnen (S. 29).

In der elfseitigen „Gebrauchsanweisung“ geht es um die Philosophie des Buches und werden die grundsätzlichen Haltungen dargestellt, für die Klaus Dörner steht und das Buch seit Jahrzehnten wirbt und Spuren erfolgreich hinterlässt. Sich bei der Bewältigung der Lebensaufgaben in eine Sackgasse zu verirren, das ist menschlich. Es kommt dann darauf an, sich suchend wieder zu finden. Dabei unterstützen die professionell Tätigen mit ihrer Suchhaltung und auch Angehörige und die Nachbarschaft. Helfende können auch irren. Das leicht über die Lippen gehende „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird in dem Beispiel der „Geschichte der Frau aus Verl“ deutlich, die sich jemanden wünscht, der „mir unendlich lange zuhört, damit ich so lange reden kann, bis ich selbst wieder weiß, was los ist und was ich zu tun habe“ (S. 19). Wie wichtig die Beziehung zwischen Hilfe suchendem und Hilfe anbietenden Menschen als Grundlage, um überhaupt hilfreich sein zu können, ist, wird im Buch deutlich. Dabei gilt es, die „Fremdheit und Würde“ des Anderen zu achten (S. 21).

Die Kapitel handeln von Menschen und bewusst nicht von Krankheiten. Es geht also z.B. in Kapitel 7 „Der sich und Andere niederschlagende Mensch“ um Depression. Es wird auch lieber von „Kränkung“ gesprochen (in dem Sinne siehe Mucha 1998*). Kränkbarkeit wird in drei Richtungen gesehen: „Als Kränkung des Körpers, der Beziehungen und des Selbst“ (S. 23). Als „wissenschaftlich nicht haltbar“ (ebd.) wird die diagnostische Bezeichnung „endogen“ von den Autor*innen „gestrichen“ (ebd.).

Psychische Auffälligkeiten, das fremde Anderssein werden in der subjektspezifischen „Landschaft der Not“ vollständig wahrgenommen (Opfer, Täter, Symptom-Sinn), um sie verstehen zu können. Ziel der möglichst „normalen“ Beziehung zwischen Professionellen und Betroffenen soll das überflüssig Werden der Symptome sein (S. 26) und das „Sich-Wahrmachen des Patienten“ nach dem „Sich-Wahrnehmen“ (S. 28).

Die Kapitel sind biografisch entlang des Lebenswegs eines Menschen geordnet von der Geburt (Kapitel 2 „Der sich und Andere behindernde Mensch mit Lernschwierigkeiten“, S. 91-134) bis zum Tod (Kapitel 13 „Der für sich und Andere alternde Mensch“, S. 655-685). Vorangestellt „Der sich und Anderen helfende Mensch“ als Kapitel 1, S. 31-90, über psychiatrisch Tätige. In den Schlusskapiteln geht es um Psychiatriegeschichte (Kapitel 14), „Recht und Gerechtigkeit“ (Kapitel 15), „Selbst- und Fremdhilfe“ (Kapitel 16), „gesellschaftliche Bedingtheit seelischer und körperlicher Gesundheit und Krankheit“ (S. 825, Kapitel 17), Pharmakotherapie, andere körperbezogene Eingriffe, auch operative, und Notfalltherapie (Kapitel 18), Psychotherapie (Kapitel 19).

Ich kann unmöglich einen höchstpotenzierten Globulus mit dieser Buchwürdigung abliefern. Das Meisterwerk sollte selbst erfahren werden. Unbedingt lesen!

* Mucha, Klaus 1998 Kränkung. In: Peter Heinrich & Jochen Schulz zur Wiesch (Hg.) Wörterbuch der Mikro­politik. Opladen: Leske +Budrich. S. 144 – 147.